Zwischen Wahrheit und Illusion – Der ehrliche Moment in der Fotografie
Im Austausch mit der Fotografen-Legende Vincent Peters
von Mag. Sabine Hütter
„In der 1/125 Sekunde, in der ein Bild entsteht, trifft das Unterbewusste auf etwas Bewusstes.“ – Vincent Peters (Interview im Fotomagazin, 2022)
Fotografie ist kein bloßer technischer Akt, sondern eine Form des Dialogs. Wenn Vincent Peters davon spricht, dass sich in der entscheidenden 1/125 Sekunde Unterbewusstes und Bewusstes begegnen, beschreibt er den Moment, in dem der Fotograf nicht nur ein Bild aufnimmt – sondern sich selbst erkennt. Damit ist jedes Portrait immer auch ein Selbstportrait des Fotografen, so der Grandseigneur der Fotografie.
Doch diese Authentizität ist fragil. Sie hängt davon ab, wie wir das Motiv betrachten – als Objekt oder als Subjekt. Und sie droht verloren zu gehen in einer Ära, in der digitale Nachbearbeitung und künstliche Intelligenz das Bild oft perfekter, aber nicht wahrer machen.
Gedankenaustausch unter Kollegen: Vincent Peters im Dialog mit Sabine Hütter, während des Treffens in Graz | Foto: Sabine Hütter Society-photography.at
Der ehrliche Moment – zwischen Fotograf und Motiv
Echte Fotografie entsteht in der Begegnung. Der entscheidende Moment, von dem Peters spricht, ist keine technische Leistung, sondern ein psychologischer Kontaktpunkt. Das Motiv reagiert – und der Fotograf reagiert darauf. Zwischen beiden entsteht ein Resonanzfeld, eine feine Schwingung aus Wahrnehmung, Vertrauen und gegenseitiger Offenheit.
In diesem Moment ist der Fotograf kein distanzierter Beobachter, sondern Teil der Szene. Die Kamera ist bloß Mittlerin – nicht Werkzeug der Kontrolle, sondern Instrument der Empathie.
2. Das Motiv als Subjekt – oder als Objekt?
Diese Frage ist zentral: Sehe ich mein Motiv als Objekt – also als etwas, das ich gestalte, kontrolliere, forme? Oder erkenne ich es als Subjekt – als eigenständiges Gegenüber, das eine innere Wahrheit trägt, die ich nur sichtbar machen darf, nicht erfinden?
Ein Objekt lässt sich arrangieren, manipulieren, ästhetisieren. Ein Subjekt fordert Resonanz. Der Fotograf muss zuhören, statt zu steuern.
Die Entscheidung, ob ein Mensch auf einem Porträt lebendig wirkt oder wie ein makelloses Abbild, hängt nicht vom Licht ab, sondern von dieser inneren Haltung. Wer das Motiv zum Objekt macht, verliert es. Wer es als Subjekt sieht, findet sich selbst darin wieder.
Starfotograf VINCENT PETERS legt den Finger gerne - auch unter Kollegen - dahin, wo es wehtut. Foto: Sabine Hütter www.society-photography.at
Von der Retusche zur Rekonstruktion
Ich erinnere mich an die Fotografen-Ausbildung in den 1990er-Jahren. Damals sprach man in der Gesellenprüfung noch über Retusche mit Eiweiß-Lasurfarben – hauchdünne Schichten, mit denen winzige Makel korrigiert wurden. Es war eine Kunst des Maßhaltens: Kleine technische Fehler wurden behoben, nie aber der Ausdruck eines Gesichts verändert.
Heute hat sich das verschoben. Kein Foto verlässt mehr den Rechner, ohne ein digitales Finish. Die Haut wird geglättet, das Licht perfektioniert, Stimmungen werden simuliert. Aus einem realen Moment wird ein konstruierter Idealzustand. Die ursprüngliche Interaktion – jener ehrliche Moment – wird ersetzt durch eine spätere Fiktion.
Wo früher das Auge und die Hand des Fotografen das Sichtbare ehrte, ersetzt heute oft Software das Erlebte.
Resonanz oder Simulation?
Wenn Peters sagt, man lerne sich selbst über seine Bilder kennen, dann beschreibt er ein organisches, analoges Prinzip: Jedes Foto ist eine Entscheidung – für etwas, gegen etwas. Doch was geschieht, wenn diese Entscheidungen zunehmend von Algorithmen übernommen werden?
Künstliche Intelligenz kann Licht, Emotion, Komposition imitieren. Aber sie kann keine Resonanz empfinden. Sie kennt kein Gegenüber, kein Zittern, kein Innehalten. Ihre Perfektion ist steril. Sie rekonstruiert, was das Auge wünscht, aber nicht, was das Herz erlebt hat.
Damit verschiebt sich die Rolle des Fotografen auf dramatische Weise: vom Entdecker zum Designer, vom Resonanzkörper zum Produzenten und diese Entwicklung hält Peters für bedenklich.
TACHELES beim Innungstreffen der Berufsfotografen in der Steiermark - Vincent Peters spricht über Authentizität in der Fotografie | Foto: Sabine Hütter www.society-photography.at
Verantwortung und Haltung
Echte Fotografie braucht Mut – den Mut, Dinge unperfekt zu lassen. Wer fotografiert, trägt Verantwortung gegenüber dem Motiv. Diese Verantwortung besteht darin, wahrhaftig zu bleiben. Wahrhaftigkeit ist nicht identisch mit Realität, sondern mit Aufrichtigkeit.
Digitale Bearbeitung darf unterstützen, aber nicht entmündigen. Wenn der Mensch im Bild zum Produkt einer Bildidee wird, verliert die Fotografie ihre Seele.
Die Rolle des Fotografen ist damit doppelt: Er ist Zeuge und Übersetzer zugleich. Er sieht das Subjekt und übersetzt seine innere Wahrheit – aber er sollte sie nicht verfälschen.
Fazit – Der ehrliche Moment als Haltung
Vincent Peters beschreibt Fotografie als eine Form der Biografie: “Wir lesen in unseren Bildern, wofür wir uns entschieden – und wogegen.” Dieser Satz ist für mich Kern und Kompass zugleich.
Denn der ehrliche Moment entsteht nicht durch Technik, sondern durch Haltung. Er entsteht im Augenblick der Auslösung, wobei Wahrhaftigkeit in dieser 1/125-Sekunde entsteht und unmittelbar wieder vergeht. Jede spätere Manipulation kann den Glanz der Oberfläche erhöhen – aber sie löscht das Licht der Begegnung.
Die Antwort lautet daher:
Der ehrliche Moment ist kein Stilmittel, sondern eine ethische Entscheidung. Wer das Motiv als Subjekt achtet, bleibt in Resonanz. Wer es zum Objekt macht, verliert nicht nur das Motiv – sondern auch sich selbst.
Vincent Peters ist noch einer jener analogen Foto-Aficionados, von denen es heute nur noch ganz wenige gibt, die aber unserer Branche wirklich guttun.
Vincent Peters beim Signieren seines hochwertigen Bildbandes: Selected Works - The Collector’s Edition | Foto: Sabine Hütter Society-Photography.at