Im Schatten des Riesenrads – Wiens Anachronismus
Sichtweisen einer Hochzeitsfotografin in Wien
von Mag. Sabine Hütter
Es gibt Dinge, die sich nicht fortentwickeln müssen, um bedeutend zu bleiben. Das Wiener Riesenrad im Prater ist eines davon – ein stiller Anachronismus aus Stahl und Sehnsucht, der seit 1897 unbeirrt seine Kreise zieht. Gebaut zum 50. Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs I., steht es da wie ein höflicher Gruß aus einer anderen Epoche. Es ist kein Symbol des Fortschritts, sondern der Beharrlichkeit – und gerade darin liegt seine Würde.
Gedankenaustausch unter Kollegen: Werner Gruber referierte über ‘Humor’ während des Treffens der Berufsfotografen in Graz | Foto: Sabine Hütter Society-photography.at
Ikonische Kulisse nicht nur für Brautpaare
Während sich in London das Eye seit 1999 als glänzendes Zeichen der Moderne inszeniert, kühl und perfekt ausgeleuchtet, steht das Wiener Riesenrad als sein stiller Gegenentwurf: unaufgeregt, analog, fast trotzig romantisch. Wo das London Eye als Synonym des digitalen Zeitgeistes dient, bleibt das Wiener Riesenrad ein Ort der Kontemplation. Es erhebt sich nicht über die Stadt, um sie zu dominieren – es schwingt mit ihr, als wisse es, dass Größe nicht in der Höhe, sondern in der Haltung liegt.
WERNER GRUBER versuchte ‘Humor’ als Lebenseinstellung zu vermitteln - Sabine Hütter nutzt die Keynote für einige ergänzende Gedanken. Foto: Sabine Hütter www.society-photography.at
Der Charme der Nostalgie
Wien hat nie die Absicht gehabt, das Riesenrad neu zu erfinden. Es wird gepflegt, aber nicht modernisiert, geliebt, aber nicht überästhetisiert. Es ist eine Maschine aus einer Zeit, in der Stahl noch eine Seele hatte und Technik etwas Poetisches war. Seine Bewegung wirkt altmodisch, fast rührend langsam – und gerade deshalb menschlich.
Das London Eye hingegen ist eine makellose Ingenieursleistung. Gläsern, digitalisiert, mit Sponsorenlogos verziert, ist es die Verkörperung einer Welt, die sich selbst vermarktet. Es dreht sich schneller, höher, reibungsloser – aber ohne Geschichte. Das Wiener Riesenrad dagegen knarzt, atmet, lebt. Es ist das Gegenteil von Perfektion – und damit wahrhaftig.
November im Prater – Wiens Antwort auf den Hochglanz
Im November, wenn Nebel über der Stadt liegt und die Luft nach feuchtem Laub und altem Holz riecht, verliert das Riesenrad jeden touristischen Glanz. Es wird zu einem beinahe metaphysischen Ort. Der Prater ist leer, das Licht gedämpft, der Wind trägt den Geruch von Metall und Erde. Wer jetzt unter den Speichen spaziert, erlebt eine Ruhe, die man in einer Welt der Dauerbilder kaum mehr findet.
In dieser Stille, zwischen den verrosteten Gittern und dem gedämpften Klang der Stadt, offenbart sich das, was London nie bieten kann: das Gefühl, dass Zeit nicht vergeht, sondern sich sammelt. Jeder Bolzen, jedes Radlager ist Teil einer Erzählung, die länger währt als jede Modenwelle.
Schlussgedanke
Das Wiener Riesenrad ist nicht modern, sondern ‘in Würde gealtert’. Wo Innovation zum Fetisch wird, bleibt die Wiener Ikone ein Denkmal der Langsamkeit. Und vielleicht ist das die schönste Pointe: Dass ein Bauwerk aus dem 19. Jahrhundert uns im 21. noch lehren kann, was wirklich wertig ist.